Und wenn ich für immer hier bleibe, was würde dann aus meinem alten Leben?
Ein Satz, über den ich nicht hinwegkomme. Er stammt aus einem Buch der jungen Schweizer Autorin Noëmi Lerch, ihrem ersten, mit dem schönen und sonderbaren Titel »Die Pürin«. Mein erster Gedanke, der mich momentlang erschreckt: Es würde wohl mit der Zeit vergessen sein, das alte Leben, nur mehr das Leben von irgendwem, nicht mehr meines; Anekdoten würden bleiben, Gesichter, die vielleicht in Träumen wiederkehren, aber im Traum ihre Bedeutung verdrehen. Ich lese weiter. Wirft man die Vergangenheit ab wie die Blindschleiche in der Not ihren Hinterteil und lässt die Vergangenheit dann liegen, während man selbst, um den fehlenden Teil verkürzt, weiterlebt? Oder leben beide Teile ihr eigenes Leben weiter, lassen den jeweils fehlenden Teil nachwachsen und sind unabhängig voneinander? Oder leben zwar beide Teile ihr eigenes Leben weiter, aber immer ist da etwas, das fehlt, und wenn man sich wieder über den Weg läuft, weiss man, was es ist, aber dann ist es schon zu spät. Aber zu spät war es vielleicht von Anfang an.
Als ich H. damals eröffnete, ich würde nach Berlin ziehen, schlug sie mir vor, einen neuen Namen anzunehmen. Wir sprachen über ihre Idee, im Lärm einer Party, wo mir jedes Wort, das ich sagte, zu laut erschien und falsch. Sie selbst habe das getan, habe einen anderen Namen jetzt, es sei ganz einfach gewesen, sagte sie, sie habe den Namen ihres Mannes angenommen und fortan ihren zweiten Vornamen geführt. Für einen solchen Schritt fehlt mir alles, oder sagen wir: fast alles, außer der Phantasie. (Namen, die ich tragen will, habe ich. Sie liefen mir mit der Zeit zu, wie vom anderen Ende der Welt.) Mir fehlt der Mut, meinen Eltern meinen neuen Namen zu erklären, Namen lassen sich ohnehin nicht erklären; ihnen zu erklären, warum ich abweise, was sie mir zugedacht haben. Ich scheue auch die Geste, sie ist mir zu groß, sie passt mir nicht. Vielleicht wäre es auch ein Schuldeingeständnis, oder Ausdruck von Scham. Vor allem aber fürchte ich den Moment, in dem mir klar wird, was ich ohnehin weiß, dass ich mein altes Leben (und es fühlt sich wirklich alt und ganz nutzlos an) nicht hinter mir lassen kann, tausend neue Namen und immer neue Namen können mir dabei nicht helfen; es macht mich träge und mutlos, ist ein Stachel für alles Neue, stellt es in Frage, belächelt es.
Die Erzählerin im Buch ändert ihren Namen nicht, sie hat erst gar keinen. Und das alte Leben, das viel älter ist als die Erzählerin selbst, wird zu einem Ort. Denn die junge Frau zieht in das alte Haus der Großeltern, das nach dem Tod der Großmutter unbewohnt ist. Doch mit ihr zieht die Einsamkeit dort ein, die Gedanken an eine verlorene Liebe (aber irgendwie auch der feste Glaube an ihr Fortleben). Die Großmutter ist zwar fort, treibt aber dennoch im Haus ihr Unwesen – Prophetin, innere Stimme und Wegbegleiterin ihrer Enkeltochter, die in diesem abgelegenen Bergdorf, in dem halb schon verfallenen Haus und schließlich in einem Leben, das dem Rhythmus der Jahreszeiten folgt, gewissermaßen strandet. Im Boden des Hauses tun sich Risse auf, aus den Rissen wächst ein schwarzer Pelz, er kommt von überall. Doch die Bedrohung kommt nicht nur aus dem Inneren, auch der über alles seine Schatten werfende Berg aus Geröll droht das Haus, den Hof der Pürin, das Haus der Großeltern unter sich zu begraben, Schicht um Schicht gerät er ins Rutschen, in der Nacht poltern die Steine herab und bis nahe ans Haus heran. (Doch von woher kommt sie eigentlich, diese Bedrohung? Steigt sie aus der Zukunft, die Tage zurückzählend, zu uns herab – oder lauert sie im jahrhundertelang abgelagerten Gestein?) In solchen Nächten steht die Großmutter auf einen Stock gestützt im Garten oder beschwört bei Tag den rätselhaften Calixt, er möge diesen Ort beschützen. Doch die Großmutter, dieser unruhige Geist, weiß sehr wohl, dass dieser Ort längst aufgegeben ist, dass es Zeit wird aufzubrechen, Sie fragt dann, hast du gehört, wie es gepoltert hat. Das sind die Kosaken mit ihren Pferden. Sie rufen dir zu, komm mit! Pferde haben sie genug und das alte Haus brauchst du nicht mehr.
Das alte Leben, so scheint es, ist ohnehin verloren. (Meines ebenso wie das der Erzählerin.) Vergangen ist es aber keineswegs, es kehrt wieder im Traum, spinnt darin seine Fäden, die undurchtrennbaren. Der Traum baut andere Häuser, baut sie ins Innere, baut unentwegt, lässt uns verlorengehen darin.
Mit Dank an Noëmi Lerch für ihr wunderbares Buch Die Pürin, erschienen im verlag die brotsuppe (Biel 2017) und einen Freund, der mich darauf hinwies. Das Buch hat mich in Vielem an ein anderes Debüt, an Dorothee Elmigers Roman Einladung an die Waghalsigen erinnert. (Es ist übrigens sie, die in einem poetologischen Text von den soft eyes spricht, die es zum Schreiben braucht, und - weiß Gott - keiner schreibt mit so schönem weichen Blick.) Weiße Pferde geistern hindurch. Wir stehen auf unsicherem Grund, längst ist das Ende da. Aber diesmal, diesmal passieren wir die Grenze.
© Text & Foto: übertage – texte aus dem off 2020
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