Das erste Bild zeigt den Jungen allein, die Arme hängen dicht an seinem Körper herab. Er trägt kurze Hosen und einen weißen Kragen unter dem dunklen Wollpullover. Die beiden Bilder sind briefmarkengroß, dennoch glaube ich seinen Gesichtsausdruck zu erkennen, er lächelt, verhalten zunächst. Auf dem zweiten dann sehe ich ihn lachen, seine linke Hand wird von der Hand des Mannes umfasst, der seinen Arm um ihn legt, auch er lacht. Leicht neigt sich sein Oberkörper zu dem Jungen herab, seine Haltung gebückt. Sein rechter Arm scheint eine Prothese zu sein, glatt spannt sich der Stoff seines Anzugs darüber, der Blick gesenkt, die Augen beschattet. Es ist Frühling, an diesem Tag legt sich das Licht der schon wärmenden Sonne auf das Gesicht des Jungen, die Hand des Mannes, seine glatte weiße Stirn. Sie werden die Kleider dieses Tages abgelegt, andere übergestreift haben. Die Strahlen der Sonne sind in die Poren und feinen Risse ihrer Haut eingedrungen wie das Licht in das Negativ der Fotografie. Sie werden ihre Augen in der Nacht geschlossen, sie für das Licht eines neuen Tages geöffnet haben. Sie werden Bilder eingelassen haben. Sie werden sich für einen Moment angeblickt haben, bis sich der Junge aus dem Arm des Mannes löst und davonläuft. In großen Sprüngen hat er den Tisch erreicht, an dem die anderen sitzen, die kaum Notiz genommen haben von dem Geschehen. Er berührt mit der Hand den weichen Faltenwurf der gestärkten weißen Tischdecke, der weiße Stoff speichert das Licht der Sonne, wirft es zurück, für einen Moment glaubt sich der Junge darin zu verlieren, als könne er hineingehen und als würde er dabei selbst dieses Licht. Der Mann verharrt für einen Augenblick, richtet sich auf, blickt dem Fotografen nach, der sich in einer langsamen Bewegung und über seine Kamera gebeugt abwendet. Das Lächeln des Fotografen, das er wie ein Bild vor sich sieht, auf das er sich einen Moment lang konzentriert hat, ist vergangen, Teil eines Geschehens, das sich ihrer entledigt hat. Mein Blick geht von einem Bild zum anderen, erfasst sie beide als eines, tilgt die Zeit, die zwischen ihnen vergangen ist. Ich taste mich vor in ihrer sich ausdehnenden Mitte. Ich versuche, die Abwesenheit des Mannes auf dem ersten Bild zu verstehen, ich projiziere seine Silhouette, sehe, obschon ich nicht sehe. Fülle Licht und Schatten in seine Augen, in seine Gestalt, sie gewinnt Umrisse, es ist, als existiere er am Ort seines Verschwindens, als erscheine er erneut, vor der Zeit.
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Copyright Fotografie und Text: ÜBERTAGE (texte aus dem off), Februar 2023
Der Text gehört der Reihe DAS GEDÄCHTNIS DER BILDER an.
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