Ich schaue auf, ohne zu wissen, warum. Irgendwo hinter mir höre ich die tiefe Stimme eines Mannes. Wollen Sie auch einen Schluck? Er wiederholt es und ich schaue auf. Wollen Sie einen Schluck. Mit einiger Verzögerung höre ich die Stimme des Angesprochenen, es ist die Stimme eines alten Mannes, er zieht die Worte zusammen und dehnt sie. Was ist denn da drin. Alkohol, antwortet der Mann, der die Frage an ihn gerichtet hatte, er sagt es ohne Scheu, sagt es, als wolle er ihn herausfordern. Wieder höre ich die Stimme des Alten, er spricht es ihm schwerfällig nach. Ich trinke nur Kaffee, sagt er dann, und etwas in seiner Stimme liegt da wie Zerbrochenes. Nur Kaffee, fragt der Andere zurück. Kaffee, ja, sagt der Alte. Wie alt sind Sie denn, fragt ihn der Mann und in seiner Frage höre ich Erstaunen. Achtundsiebzig, so glaube ich zu verstehen, denn das Wort geht in ein Räuspern über, das die Laute verschluckt. Für einen langen Moment ist da niemand, der spricht, schließlich fährt der Alte fort, vielleicht hat er wie ich aus dem Fenster gesehen und sich erinnert. Ich habe vier Kinder. Manchmal holen sie mich über das Wochenende ab. An der nächsten Station steige ich aus, sagt der Jüngere. Ich wende mich um und schon sehe ich ihn an der Tür stehen. Unsicher steht er dort, obwohl er seinen rechten Arm um eine Haltestange geschlungen hat. Die Bahn fährt schon langsamer und kommt schließlich mit einem Ruck zum Stehen. Ich sehe ihn an, er hält sich noch immer mit einer Hand an der Stange fest, als er bereits mit einem Bein ausgestiegen ist und Halt gefunden hat. Wie aus großer Entfernung, aber mit klarer Stimme höre ich den Alten, während der Jüngere dort an der Tür steht. Er spricht ihm nach und seine Worte füllen den Hohlraum des Zugabteils. Und beide schauen sie in diesem Moment auf, die Frau mir gegenüber und auch der Mann, der am Fenster sitzt und ganz abwesend wirkt, einen Arm auf seiner Reisetasche. Der Jüngere braucht einen Moment, ehe er dem Alten antworten kann. Alles Gute. Einer sagt es dem anderen. Ich sehe dem Jüngeren noch ein Stück nach, sehe ihn über den Bahnsteig weitergehen, sehr langsam, eine große gelbe Einkaufstüte in der linken Hand. Seine Bewegungen wirken steif, mühsam hebt er die Beine, als steige er über Hindernisse, die ich nicht sehen kann, als seien seine Beine nicht seine Beine oder als hätten sie ihn zu oft enttäuscht. Er schaut an sich herunter, als müsse er erst zu ihnen sprechen. Hinter ihm schließt sich die Tür des Zuges. Ich überfliege die Seite und suche die Stelle, an der ich zu lesen aufgehört hatte. Ich finde die Zeilen wieder, ich hatte sie mit einer leuchtendhellen Farbe angestrichen, ich erinnere mich. Jetzt begreift er auch, warum sein Herz schwieg, wenn er in Monaten oder gar Jahren dachte. Ich lese diese Zeilen erneut, schaue auf und halte sie in Gedanken. Das war ein Sprung, weit, weit übers Ziel hinaus. Nun, beim erneuten Lesen, frage ich mich, warum ich den folgenden Satz nicht unterstrichen habe. Es ist ganz nah, das Ende ist unheimlich nah.
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Der Text, den ich während dieser Zugfahrt gelesen habe, ist Bölls frühe Erzählung Der Zug war pünktlich.
© Foto & Text: übertage – texte aus dem off, Mai 2020
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