Der Bauer in seinem Weinfeld pfählt metallene Stöcke in den Boden ein. Die Bauern hier scheinen vom Ausnahmezustand keine Notiz zu nehmen. Als wir vom morgendlichen Spaziergang in den Hof des Hauses zurückkehren, stelle ich fest, dass der helle Klang bis hierher getragen wird. Er klingt in meinen Ohren nach, fein wie Glockenspiel. Ich sehe die Sonne hinter den Wolken hervorbrechen, eine dunstige Wärme legt sich in den Hof, weiter draußen geht der Wind über die Felder. Ich bin umgeben von den Geräuschen, die den Sommer ankündigen, alles ist erwacht, Fenster werden geöffnet. Ich denke an die Stimme meines Vaters, gestern am Telefon, und die Worte, mit denen er mir Zuversicht geben wollte; an meine Worte, die nicht hinreichten, ihm die Landschaft zu beschreiben, zum Dank.
Auch nachts ist der Himmel klar, der volle Mond scheint über das Land, macht die Wege hell wie am Tag. Alles hier ist vertraut, die Dinge aufgehoben in einer eigenen Ordnung; niedergeschriebene und vergessene Worte. Ich sitze im Hof, betrachte die mit Efeu bewachsene Mauer, den vom Wetter gedunkelten Stein des Brunnens, dessen Alter niemand sagen kann. Ich erinnere mich an den vom Nussbaum hinten im Garten geworfenen Schatten, der sich schwarz vom blauen Himmel abhebt. Die alte Nachbarin erzählte uns einmal von dem Fluss, der unter dem Dorf und von dort weiter in die Sümpfe fließt, bis er scheinbar wie aus dem Nichts an anderer Stelle wieder hervorkommt und eine Zeitlang parallel zu einem anderen fließt. Wenn ich hier bin, denke ich an den Abschied. Was ihn mir von Mal zu Mal schwerer macht, sind die unbeschwerten Tage, die so leicht dahingehen. Die Zeit hier ist eine Perle, die ich am Tag gegen das Licht halte.
Ich sehe die Bilder unserer Fahrt. Von der Küstenregion im Südwesten aus durchqueren wir das ganze Land, passieren unzählige Dörfer – manchmal sind es nur Ansammlungen weniger Häuser, manche von ihnen halb zerfallen. Je länger wir fahren, desto mehr übe ich mich ein ins Leben hier draußen, manchmal überkommt mich ein Schwindel, ich lasse mich treiben von dem Gedanken, wie es wäre, hier zu leben. Nicht nur flüchtige Blicke zu erhaschen auf die engen Straßen und Gassen, die Fluchten ins Innere der Dörfer, auf die Brücken, die mit Blumen geschmückten Plätze und die meist geschlossenen Schlagläden vor den Fenstern – sondern am Tag hier zu gehen, zum Bäcker, zum Supermarkt, zur Arbeit. Gemessenen Schrittes die Plätze zu überqueren, im hellen Sonnenlicht, vorbei an kleinen Läden, deren Besitzer mir bekannt sind. Durch ein Fenster oder an einer offenen Tür vorbeigehend mache ich eine Geste, die mit der Zeit zu einer Verabredung zwischen uns geworden ist. Oder sie stehen in der Tür, ich wünsche leise, wie verschämt, einen guten Morgen. Ich weiß, dass meine Sprache mich verrät, meine Kleidung, mein Gang und die Art, wie ich den Blick zurück werfe, noch immer, nach all den Jahren. Mit all dem überrasche ich niemanden mehr, doch ich bleibe eine Fremde hier, an deren Anblick man sich gewöhnt hat, die hilflos lächelt, wenn man sie fragt, was sie hierhin, in diese Gegend verschlagen hat.
Ich biege um die nächste Ecke und sehe ihn dort sitzen, auf der auf die Straße ausgehenden Holzterrasse des Cafés. Ich erkenne ihn von Weitem an seinen langen grauen Haaren, die er im Nacken zusammengebunden trägt, er sitzt vor einem Glas Bier in der Sonne. Wenn ich meine Runde vollendet habe und wieder an ihm vorbeigehe, ist das Glas leer, er trägt noch immer sein Lächeln und sieht an uns allen vorbei. Wie oft, frage ich mich, werde ich meine Runden gehen, bis ich mich eines Tages an den Tisch an der anderen Ecke der Terrasse setze und an nichts denke als an die langsam in einem Bogen an uns vorbeifahrenden Autos, an die Wärme, die sich in den Mauern der Häuser staut, an den weiten Himmel über uns, der vielleicht nur mir, nur in diesem Moment so weit erscheint.
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Weiter draußen ist der Titel eines Liedes (sogar einer Platte) von Kai Degenhardt. Es ist ein anderes draußen, das er meint – und doch kein so ganz anderes, glaube ich. Eines jedenfalls, das mich in diese Weite getrieben hat, über den Rand des Bildes hinaus, in dieses off, aus dem heraus ich schreibe. (Und eines Tages bin ich wohl wirklich desertiert, ohne es zu merken.) Und auch wenn ich mir manchmal etwas anderes wünsche, für mich und die Welt, danke ich ihm dafür.
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