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  • AutorenbildBritta

Adelphine

Aktualisiert: 12. Dez. 2022

Ich folge der Dorfstraße bis hinaus zum Friedhof, vorbei an weit sich erstreckenden Feldern, vorbei an einem halb verwilderten Garten, dessen vorderer Bereich noch vor wenigen Jahren aus geraden Reihen von Beeten bestanden hatte. Eine Weile wuchsen wild noch Reste von Bohnen und Mangold. Ich frage mich, ob alles hier schon damals so ausgesehen hat, der Weg zwischen Friedhofsmauer und Feldern, der dünne Streifen Wald hinter dem letzten Hof. Ich öffne das Tor des Friedhofs, dessen schmutzig weiße Farbe abblättert, der Kies darunter ist fast ganz abgetragen. Der Blick fällt auf bunten Grabschmuck, auf Scherben in allen Farben, abgebrochene Stücke von Keramikblumen in glänzenden Pastellfarben, sie wachsen in den Boden, liegen an den Rändern des Wegs, Kinder treten sie achtlos beiseite. Auf der rechten Seite, direkt an der Friedhofsmauer, liegen die ältesten Gräber, es sind nur wenige. Hier sind alle Farben grau, weiter vorn ist ein leeres Feld, die Erde wie aufgeworfen, doch es ist lange her, seit in diesem Bereich das letzte Grab eingeebnet wurde. Aber es verschwinden Grabsteine, es verschwinden die Steine, die die Gräber einst einfassten, Teile eines Korpus strecken sich hin, die Arme brechen zuerst, die kleinen zerbrochenen Körper lehnen an Steinen, in die Erde gedrückt, damit der Wind sie nicht fortträgt. Manchmal, an einem Sonntag nach der Messe, liegt auf dem Grab, das jetzt keinen Stein mehr hat, eine Blume, manchmal auch ein kleiner Strauß Feldblumen.

Die Schrift auf dem Grabstein ist noch gut zu lesen, obwohl der Stein selbst an den Ecken eingebrochen ist, eine steinerne Platte liegt auf dem Grab. Oft habe ich auf meinem Weg zum Friedhof lange nach einem Stein gesucht, um ihn auf Adelphines Grab zu legen, in die mit Moos bewachsene Rundung des Grabsteins, dessen Form ein Kreuz im Quadrat bildet. Heute suchte ich nicht; ein Stein, der in verschiedenen Farben schimmerte – unter grauem Himmel und Regen in all seinen Farben schimmerte –, lag direkt zu meinen Füßen. Ich hob ihn auf und legte ihn zu den anderen in den steinernen Bogen. Wie jedes Mal lese ich die Worte, die in den Stein graviert sind. Ich frage mich, was ihr Leben so früh, sie war noch nicht einmal zwanzig Jahre alt, beendet hat. Ich frage mich, warum die Familie nicht beisammen ist, im Tod, neben dem Grab Adelphines liegt nur das ihrer Stiefmutter, der zweiten Frau ihres Vaters; ich habe ihre Lebensdaten vergessen, aber ich glaube, sie hatte ein langes Leben. Adelphine wurde im Dezember des Jahres 1842 geboren, sie starb im Sommer des Jahres 1862. Und ich, ich frage mich, wer mir ihren Tod erklären kann, was mir Kirchen- oder Gemeindeakten verraten können über ihr Leben, über die Familie, in die sie hineingeboren wurde, wie sie den Tod ihrer Mutter erlebt haben mag. Vielleicht gehe ich auf meinen Spaziergängen durch das Dorf an dem Haus vorbei, in dem sie gelebt hat, dessen Läden sie am Morgen geöffnet und mit Einbruch der Dämmerung geschlossen hat, finde einen Stein vor dem Haus, den ich ihr bringe. Vielleicht, denke ich, ist es das direkt an den Kirchhof angrenzende Anwesen, das die Familie Lambert bewohnte, es macht immer einen bescheiden und dennoch herrschaftlichen Eindruck auf mich; vielleicht musste sie nur einen kurzen, mit hellen Kieseln ausgelegten Weg überqueren, um zur Kirche zu gelangen, mit wenigen Sprüngen mag sie dort gewesen sein, huschte hinein, bekreuzigte sich.

Ich werde Nachforschungen anstellen, werde in Erfahrung bringen, ob es Nachkommen der Familie gibt, vielleicht leben sie noch im Dorf, vielleicht sind sie fortgegangen, vielleicht erinnern sie sich an ihren Namen – wenn ihn jemand sagt, jemand, der fremd ist im Dorf – wie an etwas, das immer wahr ist. Längst ist die Zeit dahin, da jemand – und wer? – ein Andenken an Adelphine hätte bewahren können, ein Ding, auf das ihr Blick fiel, wenn sie von den Feldern heimkam, das sie beiläufig mit der Hand berührte auf ihrem Weg durch die Zimmer des Hauses. Vielleicht würde mir das schon genügen, jemand, der mir sagt, ja, meine Urgroßmutter, sie erinnerte sich noch an Adelphine, sie sprach einmal von ihr, als Kind hörte ich einmal diesen Namen.



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Text & Fotografie: übertage - texte aus dem off (2019)


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