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  • AutorenbildBritta

Betrachte ich es jetzt

Aktualisiert: 21. März 2021

Er kam mir über die Wiese entgegen, von weitem sah ich eine Gestalt sich mir nähern, ich bemerkte kein Zögern der Schritte, kein vages Innehalten. In meiner Erinnerung stehe ich mitten auf der Wiese, im milden Licht, unentschlossen, ob ich fortgehen oder bleiben sollte. Ich sehe die entlang des Weges verlaufende Mauer, die das Anwesen umschließt, fühle mich ausgeschlossen und preisgegeben. Ich höre ihn sprechen, mit tiefer Stimme und einem Lächeln, das sich in seine Züge legt, von der Schwere eines jeden Tages, der Schwere der Glieder, die mit dem Alter kommt, von den Entbehrungen, von Augenblicken wie diesem, die ihm bleiben. Ich lasse ihn sprechen, fühle keine Scheu mehr. Jeder Satz, den er an mich richtet, so scheint es mir jetzt, klingt am Ende wie eine Frage. Die Anstrengung später Stunden, das träge, vor Müdigkeit zerstreute Wachen in den Stunden der Nacht, nichts als der eigene Atem; Stimmen, die widerhallen vom kalten Stein: nichts als meine Bilder, in denen ich mir sein Leben vorzustellen versuche. Ich will genau hinhören, noch jetzt, doch vielleicht bin ich es, die seinen Worten die Richtung nimmt und sie zu Fragen verdreht.

Ich bin vom Bahnhof hierhergelaufen, bin der Landstraße gefolgt, an der entlang sich auf der einen Seite der Wald erstreckt, Felder und Wiesen auf der anderen. Ich werde ins Speisezimmer der Gäste geführt, von meinem Platz aus sehe ich den Wald, der sich um die Ländereien des Klosters legt. Ich gewöhne mich schnell, ich gehe auf leisen Schritten durch die Flure, folge den Stimmen der Männer im Gebet, manchmal dringt ihr Gesang durch die offene Pforte der Kirche, im Sonnenschein nehme ich den Weg durch den Wald ins nächste Dorf. Ich kehre in das Zimmer zurück wie zu einem Ausgangspunkt, in die Stille hinein fällt ein Teller zu Boden, aber er zerbricht nicht. Einer der anderen Gäste tritt zu mir und sagt etwas im Scherz, er hat das gebrauchte Besteck eingesammelt und sortiert es in einen Kunststoffbehälter. Die Türen werden geöffnet, unsere Stimmen dringen auf den Flur hinaus, der schmale Raum füllt sich, nach und nach treten die Männer herein. Sie nehmen uns freundlich auf, ich bin erfüllt von einem Gewirr aus Stimmen und Klängen, das sich um die festen Gewänder legt, bin erfüllt vom Licht der hochstehenden Sonne, scharf die Konturen unserer Körper im einfallenden Licht. Jemand ruft ihn bei seinem Namen, Bruder Jordan. Wie auf ein Wort hin geht er mir voran durch die weiten Flügel der Pforte, wir treten hinaus in die Wärme der Sonne, die kaum eindringt ins Innere des Hauses. Er geht fort und kommt kurz darauf zurück mit einem Bild der Gottesmutter, das er auf Holz aufgezogen hat. Ich halte es in Händen, das Licht dieses Tages legt sich darauf, webt die Farben zu einem festen Stoff. Die Gesichter von Mutter und Kind ruhen aneinander, mit den Augen schauen sie einander nicht an. Das Kind ist kein Kind, es ist der ganz ausgebildete Körper eines jungen Mannes, er streckt seine feinen Glieder, klein im Arm der Mutter, deren Hand ihn trägt, als ruhe kein Gewicht auf ihr, alles ist leichte Berührung.

In die Stille um uns her fällt mir ein Teller aus der Hand, mit einem hohen Ton schlägt er auf dem Holzboden auf. Einer der Gäste tritt neben mich, er lacht. Später sagt er, er könne sich nicht mehr daran erinnern, wohin es ihn geführt habe, da sei ein schweres Fieber gewesen vor seiner Reise, eigentlich habe er den Harz bereisen wollen. Fragte er mich, woran ich mich erinnere, so könnte ich sagen, an die sich weit entlang des Feldrandes erstreckende Klostermauer, sie strahlt weiß im vom Regen getränkten Grün der umliegenden Weiden, es ist Herbst, der Weg unter uns ausgetreten, dunkle Wolken ziehen vor uns her. Die in die Mauer eingelassene, überdachte Tür ist immer verschlossen, im Gehen halte ich mich nah an der Mauer, ich blicke zurück, den Weg entlang, es ist ein milder Tag und helle, leichte Wolken ziehen über uns hin.

An einem Sonntag zieht eine Gruppe von Männern in ihren weißen und grauen Gewändern den sich windenden Weg zum Kreuz hinauf. Mit dem letzten Anstieg werden sie unserer gewahr, wir sitzen aufrecht, meine Hände ineinandergelegt, wir wechseln Blicke und wenige Worte. Vielleicht ist es die späte Sonne, der leichte, noch warme Wind, sie geben mir ein Gefühl, als trieben wir frei und ohne Sorge dahin, immer weiter fort vom festen Land. Ein Lachen erklingt, der Raum um mich her füllt sich, im Gehen tritt einer der Männer an meine Seite, ich erkenne sein freundliches Gesicht, ich werde nach meinem Leben gefragt und suche nach einer Erinnerung. Das Sprechen fällt mir schwer, ich fühle nicht mehr das Gewicht der Worte, verliere, was sie bedeuten, weiß die Zeit verloren, die außerhalb dieses Bildes vergeht. Die Welt, aus der ich komme, ist starr, in meinem Rücken fühle ich ihren Druck, wir stehen auf und zusammen gehen wir unter einem gleißend hellen Himmel am Rand der Wiesen entlang auf den Wald zu, unter uns das weiße Band der Mauer, die das Anwesen umschließt.

Zum Abschied schenkt Jordan mir ein Foto. Es zeigt ihn selbst, im grob gepflasterten Hof, um den herum die Wirtschaftsgebäude des Klosters angelegt sind. Auf der Rückseite hat er in feinen, weit auseinanderstehenden Buchstaben die Worte „vor der Werkstatt“ notiert. Das Bild ist zu einem Rechteck geschnitten, eng um seine Gestalt hat er es ausgeschnitten, es zeigt zum hinteren Bildrand hin sich in immer kleineren Abständen fortsetzende Fenstereinfassungen. Eine Hand verschwindet in der weiten Tasche des Habits, vielleicht umschließt er etwas in ihr, in der anderen hält er das Bündel einer verwaschenen blauen Schürze und etwas, das aussieht, als trage er darin eine Papierrolle. Neben der Tür, die offenbar zur Werkstatt führt, wächst Gras in den Fugen zwischen den Steinen. Sein Gesicht freundlich, der Blick offen, der Mund halb zu einem Lächeln geöffnet. So sehe ich ihn den weiten Weg die Wiese herauf auf mich zukommen. Ich breche nicht auf mit Erkenntnissen, gehe tagelang wie in Trauer, sitze gebeugt, ein leeres Blatt vor mir.

Vor einigen Jahren, so las ich, haben die Mönche das Kloster verlassen. Ich stelle mir vor, ich besuche diesen Ort noch einmal, stehe in der Eingangshalle, sehe links die weite Treppe liegen, die sich hinaufwindet; die Bilder unzähliger Räume, die ich betreten habe, legen sich zu einem einzigen übereinander, ein fortdauernder Belichtungsprozess. Ich versuche mich zu erinnern, ich öffne einen Fensterflügel, der hinaus geht auf die Wiesen, dunkel in der Dämmerung hebt sich der Wald in der Ferne ab. Ich streife die Jahre ab, fühle die Kälte der Luft, die ins Zimmer dringt, ich vergesse die Jahre, die vergangen sind, richte mich ein mit nur wenigen Dingen. Ich lege meine Uhr auf den Nachttisch, lege ein Buch auf den Schreibtisch, ein aus der Bücherei ausgeliehener Band, den ich nicht zu Ende lesen werde, ich lege ein Blatt Papier dazu, auf dem ich Notizen für einen Brief machen will. Die Gruppe der Männer zieht ohne Worte an uns vorüber, sie folgen einander in kurzem Abstand. Den Blick abgewandt tragen sie ein weites Land in ihren eingesunkenen Körpern, in den vom Wind und vom Wetter gezeichneten Händen, den von der Kälte geröteten Gesichtern. Alles fügt sich, die sich windenden Wege, die Mauer am Rande der Wiesen und Felder, die roten Flügel der Kirchentür, ein Punkt in der Ferne, die Schritte der Männer, die an uns vorbeiziehen. Betrachte ich es jetzt, finde ich keine Frage in diesem Bild, finde nicht die Trübung vergangener Jahre, finde, wie er sagte, die Einkehr, in Augenblicken wie diesen. Ich erwache früh, es ist noch tiefe Nacht, ich gehe den weiten Flur entlang, es ist niemand in diesem Teil der Abtei, nur ein Summen, etwas wie das Anstimmen eines Tones. Ich taste nach dem Lichtschalter, strecke den Körper im heißen Wasser, das an mir herabfließt, schließe die Augen und öffne weit die Flügel des Fensters, ich werde allein sein. Licht dringt aus den Fenstern der Kirche zu mir herüber, wie eine Gestalt hebt es sich ab in der Kälte des anbrechenden Tages. In der Mitte des Bildes eine leere Stelle.




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Copyright Text & Fotografie: übertage - texte aus dem off (Oktober 2020)

Diesen Text habe ich übrigens auch für euch gelesen, den Audio-Track findet ihr auf der Startseite.

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