Die Briefe von M., in denen er über seine Arbeit schreibt, über Bücher und Kinofilme. Er liegt in einem kleinen Zimmer, auf einer schmalen Matratze, hält sich bereit, am Tag und in der Nacht. Er liest und schreibt, fällt in einen leichten Schlaf, erwacht aus einem kurzen Traum, in dem er für einen zeitlosen Moment ganz allein auf einer weiten Fläche aus Eis steht. Alle Absätze tragen ein eigenes Datum; wo er neu ansetzt, ist die Tinte dunkler als am Tag oder in den Stunden zuvor. Manchmal folgt auf ein Datum nur ein Satz. Seine Briefe sind voller leerer Räume, einige Wörter kann ich auch heute nicht entziffern. Es sind nicht mehr als zehn Zeilen auf einem Blatt, er beschreibt die Seiten niemals auf der Rückseite. Halte ich sie von der unbeschriebenen Seite gegen das Licht, verblasst das Blau der Tinte, die Buchstaben lösen sich voneinander und verlieren alle Kontur, fließen zurück in eine Bewegung, die vor alledem war. Seine Briefe, an denen er manchmal mehrere Wochen schreibt, kommen in großen Umschlägen bei mir an, an der einen Seite, wo die Bögen gefaltet sind, wölben sie sich. Nun sind es nur noch die Briefe, nicht mehr die Umschläge, auf denen meine Anschrift wechselt, auch nicht jener letzte, auf dessen Rückseite er in raschen Worten eine Entschuldigung notiert hatte. Einmal schrieb er von einem Abend mit Freunden. Die meiste Zeit über hatten sie in gedrückter Stimmung beieinandergesessen. Und ich sehe sie alle an seinem alten Küchentisch versammelt, breite und dicke Holzbretter, in der Mitte ein Spalt, die Kanten sind weich, das Holz ist weich, besonders an den Einkerbungen. Es ist ein sehr altes Haus, alles hier wirkt klein und gedrungen, ich muss mich ein Stück herunterneigen und schaue aus dem niedrigen Fenster auf das vom Regen nasse Kopfsteinpflaster der Straße, auf dem sich das Licht der Straßenlaterne bricht. Ich erinnere mich an die Wärme im Zimmer, ich fühle ein Pochen hinter der Schläfe und die Hitze des Feuers auf den Wangen und im Rücken. Ich spüre die Kühle, die vom Fensterglas abstrahlt, fühle die Unruhe der Stadt, die das Haus in der Ferne umgibt. Ich fühle mich ungebeten, mache mich bereit für das Andrängen einer alten Nacht, einen plötzlichen Schauer von Kälte auf der Haut. Er habe sie hinausbegleitet, auf der Treppe hatten sie sich gegenübergestanden, seine Freunde und er. Etwas sei abgefallen von ihnen in diesem Moment. So hätten sie dagestanden, schreibt er, hätten sich nicht mehr so schwer gefühlt, wie eine Bewegung sei es vom einen zum andern gegangen. Als sich die Tür öffnet, greift die Kälte nach ihm, wie ein Laut dringt sie herein, um den ganzen Raum zu füllen. Die Stimmen des jungen Paares, das im Erdgeschoß wohnt; glasklar in der einbrechenden Kühle. Wie ein Versprechen, dass etwas bleibt, so schreibt er.
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Copyright Fotografie & Text: ÜBERTAGE (texte aus dem off), Januar 2023
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