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  • AutorenbildBritta

Den Toten ein Ausweg

Aktualisiert: 27. Juli 2020

Wenn ein Mensch stirbt, wird er zu einem Schatten. Es ist nicht seine Gestalt, die verblasst, es geht von seinem Inneren aus, schließlich greift er die Luft, die er ist, sich selbst nicht mehr Gegenwart. Der Prozess der Zersetzung lässt ein feingliedriges Muster aus Adersträngen hervortreten, ein poröses, transparentes Gewebe. Nur wenige Worte, Unverstandenes, Reste. Blicke finden keinen Halt an ihm. Er verliert sich, während er denen zusieht, die bleiben. Er sieht sie ganz deutlich, sie scheinen sich unverlierbar, sie lachen. Im Grunde aber schweigen sie. Ich kann es sehen.


Vor mir auf dem Weg weht der Staub auf. Ein Büschel Federn liegt am Wegrand, als habe ein Kampf stattgefunden. In den frühen Morgenstunden hatte ich einen Traum. Ich sah einen Hund, einen sehr großen Hund mit dichtem weichem Fell, er lag wie ein Goldfisch in einem Glaskasten, der eigentlich zu klein für ihn war. Niemand der anderen Besucher schien überrascht, als sich der Hund plötzlich bewegte und langsam den großen Kopf hob. Das Kind zu seinen Füßen im gläsernen Kasten spielte gedankenverloren weiter. Wie die Zuschauer einer Aufführung sitzen wir in einem engen Raum. Wir sind nur wenige, ich sehe über leere Stühle hinweg, ich warte. Es wird ein Film gezeigt, im Hintergrund. Das Gewirr von Stimmen, die Bilder zeigen sein Arbeitszimmer. Die Besucher dürfen es nicht betreten, aber die Kamera fährt Zentimeter um Zentimeter das Buchregal entlang, ich habe nichts anderes zu tun, also vertiefe ich mich in die Titel der Bücher. Manchmal schwenkt die Kamera langsam in den Raum, der sich in dieser Bewegung immer weiter auszudehnen scheint. Am Ende des Zimmers, an der schmalen Rückwand, ein Fenster. Ein Schrank aus schwerem braunem Holz, dessen Tür halb offen steht.

Wenn ich nur wüsste, wo genau ich hinter ihnen zurück geblieben bin. Wo es war, da ich aufhörte und vom Weg abkam, mit der Hand nach einem Rücken tastete, mir die vertrauten Stimmen zurückrief und mich an der kalten Wand abstieß. Keine Erinnerung an Marken der Landschaft, an Höhenverhältnisse, stieg ich hinauf, hinab? Ich machte weiter, alles verlor sich, ich riss aus und suchte aufs neue, maß was ich fand an Vergangenem. Meine Schritte verlangsamen sich, ich bleibe zurück, fühle die Schwere der Glieder, den Druck hinterm Auge. Ich weiß, ich muss zurückkehren an jenen Ort, die Koordinaten der Lichtwelt berechnen, alles noch einmal empfinden und mich lösen. Doch es geht nicht, der Ort ist immerfort ein anderer, wo gestern ein Weg war, ist heute keiner mehr. Ich erinnere mich an einen Platz, an den ich mich stahl, in Entfernung das Flüstern von Stimmen, meine Unbekümmertheit, wenn ich ins Halbdunkel sah. Ich schöpfe Mut an der Gewissheit, meinen Teil vom Leben erstritten zu haben, es genügt mir. Doch nun trete ich hinaus, höre, während ich die Treppen hinabsteige, die hallenden Stimmen der lebenden Seelen, sehe ihre Adern aus Licht, ich gehe ihnen nach durch den Ausgang, löse mich leicht. Wie durch eine Drehtür, im Schwung meines leichten Körpers, kehre ich zurück in eine Zeit, da es leicht war, ihnen zu folgen. Dorthin wo ich nicht reglos hineinwachse in das falsche Licht der Abgeschiedenen.



***

für H.D.




Copyright: Text & Fotografie übertage - texte aus dem off, Juni 2020

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