Der Ort, an den ich denke, ist ein Raum, eher klein als groß, weit von hier. Ich denke an ihn, wenn ich die Zeichnung von einer Feder betrachte (merci à Stéphane Rohé), die über meinem Schreibtisch an der Wand hängt. So schön die Farben – überwiegend Blautöne, Schwarz, Weiß, das hindurchbricht – auch sind, was mich wirklich fasziniert an dem Bild, ist das mit Bleistift aufs Papier gesetzte Quadrat, in das der Stiel der Feder ganz eintaucht. Ganz leicht, wie die Feder ist, wird sie (auf dem Papier?) gehalten von etwas, das noch leichter ist als sie selbst. Wie schön und entschieden diese feinen grauen Striche auf dem festen Papier! Sie umgrenzen einen Raum, der abgeschlossen ist in sich und zugleich durchdringbar – von etwas so Zerbrechlichem wie einem Federstiel. Unter der Feder und dem Quadrat erstreckt sich ein langer Bleistiftstrich, er muss nichts tragen; nichts, außer sich selbst. Ich sehe das Bild an und freue mich über diesen leichten, mit feinen Strichen und in wunderbaren Farben gezeichneten Gedanken, bin erfreut von dem unausgefüllten Raum des Papiers. Für mich ist es das Bild einer Begegnung, das Bild desjenigen Augenblicks, da etwas, das zunächst flüchtig sinnlich wahrgenommen wird, zum inneren Bild wird, sich absenkt (oder aufsteigt) zum bewussten Gedanken, sich verankert und im selben Moment Erinnerung wird. Ich erinnere mich an den Moment, als ich dieses Bild zum ersten Mal sah.
Die Zeichnung der Feder war Teil einer Ausstellung, die in der porte des livres gezeigt wurde, einem Antiquariat in dem pittoresken Dorf Saint Sauvant, in der im Südwesten Frankreichs, nicht weit von der Atlantikküste gelegenen Charente Maritime. Es vergeht kein Urlaub, in dem ich diesem Dorf und Mariannes kleiner Bücherstube nicht einen Besuch abstatte. Und dort fand ich meine Feder, sie hing rechts neben dem Eingang, in einer fenstergroßen Nische, die in eine Wand aus massivem Sandstein eingelassen ist. Wenn man eintritt, klingelt ein Glöckchen über der Tür und Marianne sitzt hinter ihrem Schreibtisch, sie schaut immer freundlich und sanftmütig (ein Wort, das irgendwie aus der Mode ist, aber ich weiß für sie kein besseres). Sie weiß, dass ich ihre Sprache kaum beherrsche, sie spricht langsam, ist geduldig. Manchmal wissen wir beide nicht weiter, sind zuerst verlegen, dann belustigt. Aber sie weiß, dass ich gern komme; wahrscheinlich nimmt sie auch wahr, dass es mich betrübt, zwischen all den Büchern zu stehen, die ich nicht lesen kann und die ich natürlich dennoch kaufe. Wenn ich die Wanderung zurück antrete, den kleinen Laden verlasse, werfe ich einen Blick in den großen Garten hinter dem Haus, durch den der Coran hindurchfließt. Zurückgekehrt nach Berlin unternehme ich einen erneuten Versuch, ihre Sprache zu lernen.
Schaut euch doch mal die Arbeiten von Stéphane Rohé an: https://artimage-galerie.fr/categorie/peintures-et-gravures/rohe-stephane/
Und hier geht’s gleich nach Saint Sauvant, in die wunderbare kleine Bücherstube: https://www.facebook.com/laportedeslivres/
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