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  • AutorenbildBritta

Die große Figur (Teil III)

Ich hatte G. auf der Straße getroffen, zufällig, ich fuhr mit dem Auto an ihm vorbei, er machte eine Geste, ich solle anhalten. Aber vielleicht habe ich sein Winken auch nur als eine solche Geste gedeutet. Eine weniger gerichtete Aufmerksamkeit in diesem Moment, ein vorweggenommenes Missverständnis der unzähligen, die folgen sollten – und alles, was ich nun vor dem Licht schützen muss, wäre vielleicht nie geschehen. Wir sprachen nur kurz miteinander, am offenen Kofferraum eines Wagens, der nicht seiner war. Ich realisierte erst später, dass der Mann, mit dem er gesprochen hatte, verschwunden war. Am Abend schon traf ich ihn überraschend wieder, in der Pause der Theateraufführung, die wir uns offenbar beide angesehen hatten. Die Stunden sind hell und fließen ineinander, immer in all der Zeit danach sehe ich uns bei Tag auseinandergehen, wir wenden uns ab, er entlässt mich, ich gehe die wenigen Stufen des Hauses hinab, noch im Eingang stehend sehe ich mich auf der Straße um. Mit der Zeit gewöhnte ich mich an die Helligkeit, an die kurzen Stunden des Tages. An einem heißen Sommertag saßen wir nebeneinander auf einer Bank in einem Wald, ich weiß nicht, wie weit wir hineingegangen sind, der Himmel über uns ist klar und weit, mit dem Blick folge ich dem Weg ein Stück zurück in die Richtung, aus der wir kamen. Noch ungeübt im Beisammensein hatte er den Arm um mich gelegt, die Wärme schien seinen Körper noch weicher zu machen, widerstandslos. Ich wich seinen Fragen aus, wand mich in seinem Arm, er aber beharrte, wurde nicht klug aus mir. Auch ich verstand ihn nicht, glaubte nicht, dass Worte von Bedeutung sein könnten für das, was geschah, was wir kommen sahen, was ich kommen sah in einem überraschenden und irritierenden Gefühl der Fremdheit, der Fremdheit zweier Körper, ihrer ungelenken Verbundenheit. Was ich kommen sah in Gefühlen der Erfüllung und der Trostlosigkeit; ein Aufbruch, das Ende der Reise zugleich. Es dauerte nicht lang, bis ich die Sprache wiedergefunden hatte, ich fand Worte für Wünsche und Geständnisse, für Enttäuschung und Anklage. Mit den Worten ging uns das Einverständnis verloren, das es vielleicht nie gegeben hatte zwischen uns. Wir trieben dahin, jeder seiner eigenen Strömung folgend.


Die Fenster nach hinten hinaus, zum Garten, erscheinen mir in diesem Moment, der lange zurückliegt, wie ein dunkler Spiegel, der das Bild des erleuchteten Zimmers zurückwirft. Er legt eine Kassette ein, seine Augen werden klein, er lächelt wie jemand, der lässig einem Angriff ausweicht, das Lied wird dir bestimmt gefallen, sagt er. Fifty ways to leave your lover. Für einen Moment fühle ich mich unbehaglich in diesem Raum, der mit einem Mal so offen scheint. Wir haben einen ganzen Tag vor uns. Jetzt, am Abend, in der Dunkelheit um uns und der verbrauchten Luft, fühle ich den Tag anbrechen; fühle, wie die Stunden vergehen, bin verlassen von den Stunden, die vor uns liegen, schon spüre ich den kühlenden Wind der ersten Stunden des Tages. Als seien wir nicht mehr allein, beginne ich uns zu beobachten, unsere trägen Bewegungen, unsere gelösten und erhitzten Gesichter, in die sich die vergangenen Stunden eines lange erhofften und sich nun über uns ausgießenden Glücks eingeschrieben haben. Ich sehe uns einander zugewandt, sehe ihn in einem Bogen aus dem Bild verschwinden, sehe im Spiegel, wie sich seine Gestalt hinter mir wieder nähert. Er lächelt und neigt seinen Körper, streckt seine Hand nach mir aus, hingerissen zu einer Freiheit der Bewegung, die uns beide überrascht. Ich fühle mich sicher, genieße unsere Haltlosigkeit angesichts der verrinnenden Zeit. In der Nacht wache ich auf, hole die Stunden nach, die ich in Gedanken vorausgeeilt war, halte fest, was ich greifen kann, sitze aufrecht neben ihm und verliere mich in der Betrachtung der gleitenden Konturen von Gegenständen, die mir fremd sind.

Vielleicht hätte ich damals schon wissen können, dass uns von allem nur Worte bleiben würden.

Daher wohl bewahre ich die Briefe sorgsam auf, trage sie mit mir von einer Stadt zur anderen, besorgt, es könnte einer verlorengehen. Ich räume sie von einer Schublade in eine andere, weiß ihren Ort. Ich fürchte Feuer und Zerstörung, als fürchtete ich, ein Anker könne sich lösen, und etwas, das befestigt war, triebe fort. Und doch warte ich auf den Tag, da sie mich einfach zurücklassen, warte darauf, dass die Spuren, die sie tragen, die Flecken, das an den Ecken abgeriebene und geknickte Papier, die stellenweise verwischte Tinte nicht mehr meine Spuren sind. Die Briefe liegen vor mir auf dem Tisch, sie kommen mir vor wie zufällig an Land gespült, ich suche mich in ihnen und erschrecke doch über jede Ähnlichkeit zwischen mir und der jungen Frau, an die sie gerichtet sind. Nun arbeite ich mich hindurch, Zeile für Zeile, die Seiten eng beschrieben, die Zeichen getragen von unsichtbaren Linien. Bisweilen fühle ich mich wie damals in die Irre geführt und zurückgelassen dort, wo seine Worte allen Halt verlieren. Alles füllt sich mit Luft, mit der Schwere von Gedanken, die um sich selbst kreisen. Damals, denke ich, werde ich diese Stellen überflogen haben, voll Ungeduld in der Erwartung eines Versprechens, in der Hoffnung auf eine Wendung eile ich ihr entgegen, mit der sich, denke ich, mit einem Mal die Richtung seines Schreibens ändern muss, ich erwarte die Auflösung der Form, an den Rand gedrängte Zeichen, so sehr in Eile hingeschrieben, dass sich die mir vertraute Handschrift in etwas Fremdes verwandelt. Ich fühle mich oft schläfrig in diesen Tagen meiner Exegese, als kämpfe mein Körper mit einem schädlichen Einfluss. Einmal, gegen Ende, schreibt er über das symbolische Fallen der Schrift, er schreibt quer übers Blatt, eine Art kontrollierte Entgleisung, die Lust an der Inszenierung, die aus dieser Geste spricht, irritiert mich, denn nichts liegt uns ferner, als uns selbst in Worten verloren zu gehen. Der Sinn seiner Worte verwirrt sich, unmerklich werden wir selbst zu Linien, die sich kreuzen und wieder auseinandergehen. Dann wieder, so schreibt er, fühlt er sich durch meine Worte, deren Erinnerung für mich für immer verloren ist, in die Irre geführt. Ihm schwindele, so schreibt er, während er versuche, das Geflecht der Gedanken, in die er sich verstricke, zu entwirren. An diesem Punkt kreisen seine Notizen um die Leere. Er notiert seine Worte im Kreis, die Zeilen verschlingen sich ineinander, ich gehe ihnen mit dem Finger nach, endlich verliere ich die Orientierung, streiche mit der Hand über das Papier, es ist nicht wichtig.


Wie ein Toter in die Welt der Lebenden zurückkehrt, so ist er auf ein Wort hin in mein Leben zurückgekehrt. Wie ein Toter bricht er in das Gefüge eines Lebens ein, das in seiner Abwesenheit gründet und in ihr gedeiht, er fordert sein Recht und zwingt in die Vergangenheit. Die Stimme sicherer als meine, ich nehme Spuren des Alters in ihr wahr, ich erinnere mich an sein Sprechen, gleichzeitig überdeutlich und rhythmisch, erkenne es ohne jeden Zweifel an den zitternden kleinen Unterbrechungen, die er auf Worte und Sätze folgen lässt. Eine tragende Stimme, tief und ruhig, ich erinnere mich nicht, ihn je laut erlebt zu haben. Ein Anheben der Stimme genügte, wollte er sich Gehör verschaffen. Aber ich erinnere mich an das Brechen der Stimme an jenem Tag. Ich war ihm längst unerreichbar, war nur widerwillig und voller Ungeduld für ein letztes Gespräch, wie er sagte, zurückgekommen. Ich erinnere mich nicht, wie ich ihn zurückgelassen habe, ob mich seine Worte, seine fremde Stimme, verfolgten, ob ich mich mit einer raschen und strengen Bewegung losmachte von ihm oder mich still abwandte, im Schutz von Worten, die mir recht gaben. Ich erinnere mich nicht, ob ich Bedauern empfand oder Schuld, oder ob ich befreit und in dem Gefühl, mir meinen Teil vom Leben erstritten zu haben, die vertrauten Straßen entlang und aus der Stadt hinausfuhr.


Die Musik verklingt. Ein Unwetter zieht auf, der Donner ist noch fern. Wind fährt durch das Laub der Bäume. In dieser Nacht träume ich von einem Reigen. Menschen, die ich einmal kannte (so sage ich im Traum), stehen beisammen in einem Kreis, jeder tritt einmal aus diesem Chor heraus und sagt einen Satz, der an mich gerichtet ist. Sie sehen zu mir hinüber, ich stehe weit außerhalb des Kreises, sie sagen Dinge, wie man sie sich bei Tag zuruft. Ich erinnere mich an die Zeilen eines Liedes, I hear a very gentle sound, with your ear down to the ground. Entschuldige, schrieb ich ihm heute. Es ist so viel Zeit vergangen, alles hat sich verschoben, verschiebt sich immerfort. Wir täuschen uns über uns selbst, Frieden sei es, dachte ich, was ich suchte.




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Copyright Fotografie und Text: übertage - texte aus dem off, Januar 2021

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