
Bei genauem Hinsehen, aber es mag der Perspektive der Aufnahme geschuldet sein, wirken die Arme ein wenig verkürzt, die Handgelenke unnatürlich vom Körper weggestreckt. Mit den Innenflächen beider Hände bildet das Kind eine Schale. Es steht aufrecht und groß inmitten von etwas, das wie ein Garten in modellhaft verkleinerter Form erscheint. Es trägt ein weißes Kleidchen, das die helle Haut an den Armen entblößt, auch die Strümpfe sind weiß, sie reichen fast bis zum Knie hinauf; weiß auch die feinen knöchelhohen Stiefelchen. Die nur knapp über Bodenhöhe angelegte Umfassung aus Pflanzenwerk verläuft in unregelmäßiger Form, darin steht das Kind, bis zum Rand seiner kleinen Festung herangetreten. Die Augen geschlossen, den Mund halb geöffnet, als spräche es oder bewegte bloß die Lippen zu einem nicht abschwellenden Ton, den es im Inneren vernimmt. Auf der linken Seite des Bildes ist ein Stück des Himmels jenes Tages erkennbar, bald wird er von dichtem Laubwerk verdeckt, das einen scharfen Kontrast zu der kleinen, beinahe leuchtenden Figur des Kindes bildet. Hinter ihr wächst eine Pflanze gerade in die Höhe, helle Blüten hängen wie unregelmäßig geformte Fingerhüte daran herab. Gleich daneben ragen die großen Blätter einer Pflanze hinter dem Kind hervor, auf der rechten Seite streckt sich eines der Blätter zu einem Kelch, in seinem Inneren fließt das Licht zusammen. Die steinerne Umfassung markiert einen Weg, der in dichtem Buschwerk endet, darüber ragen tief die schweren Äste eines Baumes herab, Dunkel zieht ein anderes Dunkel an sich, Bodengewächse schlingen sich ineinander, drei weiße Rosen am linken unteren Bildrand.
Betrachte ich die durch mehrmaliges Ablichten vergrößerte Fotografie auf dem Bildschirm, so hat sich um das helle Haar des Kindes ein Schein aus Blautönen gelegt; einzelne blaue Lichtpunkte durchsetzen das nun, in der fortwährenden Reproduktion, weiß erscheinende Blattwerk, wie Funken sprühen sie um den Kopf des Kindes, eine Strähne des hellen Haares fällt in die Stirn, dunkel die Öffnung seines Mundes, auf die Augen hat sich ein Schatten gelegt.
Ich dringe durch das Fenster ein, widerstandslos öffnet es sich nach innen, wie durch die Luft gehoben gelange ich ins Innere des verlassen dastehenden Hauses. Die Haustür schließt nicht, auf den Stufen im Eingang hat der Wind vertrocknetes Laub zusammengeweht. Die Fenster blind oder zerschlagen, Öffnungen oder Spiegel alter Seelen. Ein Stück porös gewordener Tapete löst sich knapp über dem Boden von der Wand und wellt sich unter der eindringenden Feuchtigkeit. Ich sehe mich am Fenster stehen, betrete das Haus in einer anderen Zeit, sehe in den kargen Hof hinunter, den Blicken der Männer entzogen. Ich verschwinde in der Körnung des Bildes, im abweisenden Grau des Mauerwerks, das die Männer mit einem Lächeln hinter sich lassen, ich trete an die Seite eines Menschen, der mich wie aus einem Irrtum in sein Haus gelassen hat. Ich spüre die Kälte innerhalb dieser Wände. Ich höre das in rhythmischen Stößen immer wieder erneut anhebende Geräusch des Kühlschranks. Kein Laut dringt von draußen herein. Ich höre das Knistern von Stoffen im Nebenzimmer, das elektrische Flackern des Fernsehers, kurz bevor der Bildschirm schwarz und die Staubflocken auf dem gläsernen Bildschirm wieder sichtbar werden. Ein flüchtiger Schleier bewegt sich darüber hin, Kältehauch, das letzte Bild verschwindet wie aus dem Inneren heraus eingesogen. Ich höre den Staub eindringen in die schweren Polster der Sitzmöbel, die Kunststoffbezüge der Küchenstühle scheinen die Kälte auszuströmen. An manchen Stellen verliert das Linoleum seine Haftung zum Boden, nähert man sich von der Tür her, wird die Luft mit einem trockenen Laut darunter hindurchgepresst. Ich spüre den Wind durch das rissige Holz der Fensterrahmen ziehen, mit ihm kommt die Zeit, die sich im Inneren dieses Hauses verliert. Kein Laut in der Wohnung über mir.
Ich denke mich in Häuser hinein, fühle mich ein in ihre besondere Dunkelheit, ein dichtes schweres Grau, das durch Fugen dringt. Wehre die ersten Strahlen des Lichts ab, kauere im Dachboden, finde Zuflucht, in diesem Haus allein. Von außen wirkt es um diese späte Stunde, als sei es unbewohnt. Vergrößere ich erneut die Fotografie von dem Kind inmitten des Gartens, wirkt es, als winkle es die Finger der linken Hand an und balle sie leicht zu einer Faust, der helle Stoff des Kleides eine weiß brennende Fläche, die das Bild von innen heraus auszulöschen droht.
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Der Text trägt ein Motto, es stammt aus THE END von den DOORS, "weird scenes inside the gold mine". Er ist Birgit F. gewidmet, die mir irgendwie durch den Kopf schwirrte...da war der Todestag von Jim Morrison, Birgits Buch über ihn und für einen Moment tatsächlich ein leises Bedauern,
Berlin verlassen zu haben.
Text & Fotografie übertage - texte aus dem off, Juli 2021
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