1975 ist die Langspielplatte Rubycon der Berliner Gruppe Tangerine Dream erschienen. Doch für mich beschreibt die Musik auf diesem Album den Geist der diesem Jahr vorangehenden Zeit. Kritiker sagen auch, bei dem Album handele es sich um die Quintessenz der vier Alben, die in den Jahren zuvor erschienen waren. Nun, ich bin kein Musikjournalist, und Tangerine Dream haben mich späterhin nicht mehr interessiert. Ich habe auch die LP damals nicht besessen, die Musik lediglich sporadisch bei anderen Leuten gehört – und scheinbar vergessen. Ich verbrachte jene Zeit – die Zeit meiner Jugend – in einer Kleinstadt in Nordrhein-Westfalen; die Stadt lebte damals von der Metallindustrie und lag in einem engen Tal; die Welt war noch klein und dunkel, und die Öffnung der Welt verlief über die Musik – und über Drogen. Vor allem kam die Musik aus den USA oder aus England, Musik also aus einem anderen Erfahrungsraum – und der stand gegen die deutschen Schlager der damaligen Zeit, mit denen wir nichts zu tun haben wollten; dann aber kamen Can und Amon Düül und Embryo und Kraftwerk und so weiter – und eben auch Tangerine Dream; sie alle waren aber weniger ‚deutsch‘, als vielmehr Ausgeburten der besonderen spannungsgeladenen Situation in der BRD zwischen Revolte und Repression, wirtschaftlicher Krise und der gleichzeitigen Existenz von kulturellen Freiräumen, die man sich heute kaum mehr vorzustellen vermag.
Erst vor ein paar Jahren – und zwar genau in einer Zeit, als ich mich für die Bilder der amerikanischen Fotografen der siebziger Jahre zu interessieren begann, die man heute unter dem Label New Topographics führt – fiel mir beim Besuch eines Second-Hand-Plattenladens diese LP von Tangerine Dream wieder in die Hände. Und ich habe sie dann schon wegen des Covers gekauft, das sicherlich eines der besten in der Geschichte der Pop-Musik ist. Wer will, kann sich dieses Cover anschauen – ich selbst hatte es jedoch in dem Augenblick vergessen, als sich das Vinyl auf dem Plattenteller zu drehen begann, die Musik einsetzte und mein Blick auf ein Foto fiel, das ich selbst von einer damals so genannten ‚Neubausiedlung‘ in einer anderen und doch der meiner Jugend vergleichbaren Kleinstadt gemacht hatte. Und, was soll ich sagen, was nun geschah, war mit der Wirkung der berühmten Madeleine in Prousts À la Recherche du temp perdu zu vergleichen: In meinem Kopf verbanden sich Musik und Foto und evozierten einen Film, der angefüllt war mit dem Geschehen dieser Jahre, mit den Gesichtern der Menschen, die ich damals kannte, und dem Gefühlsleben dieser Menschen, die auf der Flucht waren vor dem grauen Grauen des Lebens in jenem dunklen Tal, die die Musik, die Bilder und die Drogen als Vehikel ihrer Flucht benutzten. Ich sah die Gesichter von jungen Menschen, von denen viele diese Flucht nicht überleben sollten – vor allem, weil sie noch nicht um die möglicherweise tödliche Wirkung der Drogen wussten. Ich sah mich mit einem Freund in einer Siedlung wie der abgebildeten nach einem Parkplatz suchen, sah uns mit paranoiden Blicken (denn wir fielen überall auf mit unseren fettigen langen Haaren, unseren abgewetzten Felljacken und zerschlissenen Jeans) und feuchten Händen auf das Haus zugehen, denn wir wussten nicht, ob Er zu Hause war, ob er die Erlösung bereit hielt, derer wir bedurften.
Der Kreis schließt sich. Die Gegenwart meiner Empfindungen beim Hören der Musik und dem Betrachten der Fotografie verbinden sich mit den irgendwo in mir gespeicherten Empfindungen jener Zeit – und ich weiß in diesem Augenblick, dass ich diese Empfindungen nicht abspalten kann von dem, was ich heute zu sein glaube – dass ich vielmehr wesentlich der bin, der genau diese Empfindungen in sich trägt – und nichts sonst. Und jetzt würde ich gerne einen Film machen zu dieser Musik, der nur die Gesichter, die Landschaften und Häuser jener Zeit zeigt – in Schwarz/Weiß. Nun fehlen mir dafür aber die Mittel – also müsst Ihr den ‚Film‘ selbst machen: Hört Euch die Musik an (etwa hier) und betrachtet dabei das Foto (ich könnte jetzt noch von gewissen Mitteln sprechen, die Euch dabei helfen könnten…)!
Nachbemerkung #1: Nicht zufällig findet sich, klappt man das Cover der ersten LP von Kraftwerk (die mit dem orangenen ‚Verkehrsleitkegel‘) auf, ein Schwarz/Weiß-Bild des später berühmt gewordenen Fotografen-Ehepaars Bernd und Hilla Becher, das eine Umspannstation zeigt.
Nachbemerkung #2: Nicht nur die DDR war zu dieser Zeit schwarz/weiß, wie viele Menschen heute glauben, sondern auch die BRD. Tatsächlich.
CJ Bauer ist eine Hälfte von THE LOST VERSES; das Foto ist von ihm.
Gegenlicht ist eine Reihe auf übertage, in der Beiträge von Gästen veröffentlicht werden.
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