(Für Thomas K.)
Eines Abends, vor wenigen Tagen erst, erreichte mich eine Mail, die von ichweißnichtwoher kam und nun, glücklich!, auch zu mir gefunden hatte. Darin wurde ich gebeten, ein Gedicht an jemanden zu schicken, dessen Namen ich nicht kannte, dessen Adresse ich aber unten im Text vorfand. Zeilen sollten es sein, Fragmente, Worte, die ich als Weggefährten betrachte, die mir in schwierigen – sagen wir: kargen – Zeiten eine Hilfe sind, an die ich mich wende, wenn ich Trost suche. Ich gab das, was mir in den Sinn kam, weiter, leitete auch die Botschaft weiter. Poetry exchange erinnert von Ferne an Spielarten der Aktions- oder Performance-Kunst der 60er und 70er Jahre; es scheint ein Widerspruch in sich: das Herbeiführen zufälliger Konstellationen (hier: das Zusammentreffen von Poesie und Mensch), in denen sich nicht Vorhersehbares ereignet, das die eigenen Grenzen (und die der Kunst) überschreitet. Kunst und Leben (Kunst und Alltag) sind hier nicht voneinander zu trennen.
Am nächsten Tag erhielt ich eine Mail, die ich zerstreut öffnete. Einziger Inhalt: Sechs Zeilen, dicht aneinander gefügt, das Gedicht trägt den Titel Grabschrift der Schwalbe, der Name des Autors, Rudolf Borchardt, ist in kleinerer Schrift darunter gesetzt. Ich las es ungeduldig, unvorbereitet auf das, was dort stand – und doch senkte sich etwas, drang etwas durch; seitdem wandert es – wenn ich gehe oder aus dem Fenster schaue – traurig und wunderbar, durch die Zeilen, kehrt immer wieder zurück zu den Worten Schwestern im Blau. Ich sehe das Blau des Himmels, das Blau des Gefieders (denke an die Kronentaube auf dem Umschlag der Einladung an die Waghalsigen), den Zug der Vögel über dem Meer, höre das Schlagen der Brandung; auch das Schweigen versuche ich zu hören.
Ich habe zwei wunderbare Gedichte geschenkt bekommen (und die Schwalbe obendrein von einer Autorin, deren Roman ich vor einigen Jahren mit großer Aufmerksamkeit, gleichsam hellhörig, gelesen habe). Glücklicher Moment: Ich weiß, dass sie jemandes Begleiter sind, jedes auf seine Weise. Ich weiß, dass Worte gelebt werden wollen, sie wollen uns nah sein und dennoch sinken sie mit der Zeit ins Vergessen. Auch die Schwalbe, von der das Gedicht spricht (die im Gedicht spricht), war des Menschen Genossin; von einem Ort jenseits aber spricht sie, ringt nach Ruf, auch später nicht ganz stumm. Auch Worte rufen sich in Erinnerung, singen anderswo, und von anderswo, bewohnen unsern Geist.
Es ist, als gäbe man einen Freund, einen Vertrauten, in die Hände eines Fremden, in der Hoffnung – so schrieb mir jemand – ihn zu heben. Auch dies ein glücklicher Moment: ohne lange zu forschen, ohne wirklich darüber nachzudenken, ganz unwillkürlich mich jener Zeilen zu erinnern, die ich einem Fremden dann zukommen ließ. (Ich hätte mir für sie ein weißes Blatt und einen Umschlag aus festem Papier
gewünscht, hätte sie allen Fährnissen ausgesetzt, schließlich, das weiß ich, hätten sie ihren Adressaten erreicht, weit von hier; –– so aber zweifle ich.) Es sind die Zeilen aus einem Liedtext von Kante (in meiner Aufregung vergaß ich, es unter das Geschriebene zu setzen). Es wird ein warmer Abend sein, so heißt es (und in meinen Gedanken folgen die Worte einer Melodie) / Und wir werden draußen stehen / Und wir werden uns berühren / Und die Nacht sich senken spüren.
Ich wählte drei Zeilen für den Unbekannten, die in meiner Erinnerung am deutlichsten widerhallten, und natürlich weiß er nicht um das Zittern, um das plötzliche Gefühl von Hitze (oder Kälte?), das mich ergriff: Kein Geist wird unsern Mund bewohnen / Kein Schatten unser Herz / Wir werden unsre Schwere fühlen. Ich weiß selbst nicht recht, fühle ich mich gehoben von den Worten, die in meinen Gedanken Musik sind, oder ist es so: fühle ich die Schwere? Glücklicher Moment: Ich werde mir dieser Zeilen bewusst, die mich begleiten, seit so vielen Jahren. So oft entsinne ich mich ihrer, dass sie mir unverlierbar scheinen. Denke ich an mich, denke ich an ein Ende, ist es in diesen Worten, die mir geliehen und die doch meine sind. Ich empfinde den Schrecken, ich empfinde Befreiung.
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