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  • AutorenbildBritta

Um uns herum das Geräusch von Schüssen

Aktualisiert: 8. Apr. 2020

pour Nathalie


Wir wussten nicht, ob wir es über die Grenze schaffen würden. An der Grenze zu Belgien hatte es keine Schwierigkeiten gegeben, es waren nirgends Kontrollposten zu sehen, das Gelände wie leergefegt, nur wenige Autos kamen uns entgegen. Von überallher erreichten uns Nachrichten, die uns – die Reisenden – über die aktuelle Entwicklung auf dem Laufenden halten sollten. Fälschlich wurde uns berichtet, Frankreich habe alle Grenzen geschlossen, doch das war erst am nächsten Tag tatsächlich der Fall. Wir näherten uns dem Grenzübergang, doch nichts Außergewöhnliches geschah.


Das pyramidenartige Denkmal, das an die Kämpfe im Ersten Weltkrieg erinnert, ist von einem weiten, mit Gras bewachsenen Gelände umgeben, auf dem Hinweg unserer Reise machen wir hier immer Rast, durchstreifen das Gelände bis an den Rand der Felder. Der Himmel ist blau, ich höre die erste Hummel in diesem Jahr, ich schaue mich um, aber sehe sie nicht. Wie von fern, doch eigentlich ortlos, dringt ein Geräusch zu uns, das mir vom Flattern der Trikolore im Wind herüberzukommen scheint. Auf der gegenüberliegenden Seite der Straße spannt sich ein Absperrband, einige Autos fahren an uns vorbei, sie sind schnell, ich kann ihnen nur für einen kurzen Moment folgen. Ich habe Lust, eine Zigarette zu rauchen, die Wärme der Sonne zu genießen, den leichten Wind um uns zu spüren. Wir gehen weiter, durch das Gras, das an manchen Stellen höher ist, über den weichen und sonnenwarmen Boden. An einigen Stellen sind Krater, als würde die Erde hier von etwas in die Tiefe gesogen. Wir umkreisen sie, hier und da Reste von Stacheldraht, auf einer Anhöhe steht ein schlichtes weißes Holzkreuz, doch die Jahreszahlen darauf sind von Wind und Regen bis zur Unleserlichkeit ausgewaschen. Das Geräusch, das von überallher zu uns dringt, ist das von Schüssen, die in kurzen, aber unregelmäßigen Abständen abgefeuert werden. Sie sind fern, sie scheinen vom Himmel zu fallen, sie bedrängen mich, für einen Moment fühle ich mich diesem flachen Stück Land ausgeliefert, dem weiten blauen Himmel. Erst später, als wir wieder ins Auto gestiegen und wenige hundert Meter weitergefahren waren, wurde mir klar, dass die Schüsse auf dem unmittelbar an das Feld angrenzenden Truppenübungsgelände abgegeben wurden. Sie erschienen mir nicht lauter als aus der Ferne, auch hier auf seltsame Weise verfremdet wie durch Lautsprecher übertragen; ein Grollen, das in der Luft über uns stand. Ich stellte mir das Gelände hinter den rundum angebrachten Zäunen vor, durch das breite und wohl eigens angelegte Straßen führten, und wir hatten gerade den Eingang des nächsten Dorfes passiert, als die Kupplung blockierte und der Wagen in einer Hofeinfahrt ausrollte und schließlich zum Stehen kam. Durch die Frontscheibe beobachteten wir, wie es Abend wurde, sich erst die Dämmerung und schließlich die Nacht niedersenkte. Ich stieg aus, als der Wagen des Mechanikers hinter uns in der Einfahrt hielt. Ich stehe abseits, noch immer verwundert über diesen weichen Händedruck, er beugt sich mit einer Taschenlampe über den Motorraum unseres Wagens. Ich halte den bellenden Hund zurück, der vor dem Mann fliehen will, ich rede ruhig auf ihn ein, es scheint mir, als fürchte er das grelle Licht der Lampe, das manchmal das Gesicht des Mannes streift.


Die Nacht verbringen wir im Auto, wir haben erst gar nicht versucht, in dieser ländlichen Gegend und so spät am Abend eine Unterkunft für die Nacht zu finden. Die Kälte dringt in alle Glieder, lässt mich bewegungslos verharren, ich schlafe kaum, sehe hinaus in die Dunkelheit, in der sich nichts regt. Ich spüre das Zittern des Hundes in meiner Seite, es kommt in Wellen. Auch er ist unruhig und findet keinen Schlaf, erst mit dem Morgengrauen legt er sich zwischen uns und schläft ein. Als ich am frühen Morgen aus dem Wagen steige, fühle ich mich über Nacht in einen gläsernen Körper verwandelt, dessen Bewegungen ich nicht trauen kann.

Im Haus erinnere ich mich an die Polaroids, die ich vor Jahren in den Winkeln des Hauses aufgenommen habe. Ich blättere im Gästebuch, bis ich die Bilder finde, die ich in jenem Somme darin eingeklebt habe. Das Licht, das sie speichern, erscheint mir fremd und alt, die Aufnahmewinkel finde ich nicht wieder, als habe das Haus mit den Jahren seine Winkelmaße verändert, als habe es sich in sich selbst verschoben. Etwas hat sich verändert, es ist nicht die Atmosphäre im Haus, es ist etwas außerhalb des Hauses oder im Inneren seiner Bewohner, es dringt über die Radiostimmen zu uns, macht sich bemerkbar als Unruhe, die wir mit uns tragen. Ich bin müde, ich schlafe viel. In der Nacht höre ich den Lärm der Frösche in der Dunkelheit, immer in gleichbleibender Entfernung, ich will hindurchgehen, aber es ist, als weiche er vor mir zurück.

Ich sehe uns wieder vor der Tafel am Denkmal stehen, ich schaue in den Himmel, mein Blick gleitet über das weite Feld, ich spüre die Wärme in meinem Gesicht, in meinen Haaren, fühle mich wie aufgehoben. C. hat sich abgewandt, er steht vor der Tafel und liest, vier Jahre, sagt er, ohne sich zu mir umzuwenden. Vier Jahre, kannst du dir das vorstellen?




© inklusive Foto: übertage – texte aus dem off 2020

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